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Mit oder ohne dich?

Der Frust über die Ablenkung durchs Smartphone nimmt zu. Wir wünschen uns mehr Zeit für Konzentration und Besinnung. Sind wir noch selbstbestimmt oder schon abhängig? Und würde es uns glücklicher machen, kein Internet mehr zu nutzen? Auf der Suche nach den digitalen Eremiten: Menschen, die offline leben.

Von Marie-Luise Schächtele

Der Gong ertönt. In der Schule ist nichts Besonderes passiert. Marcella (Nachname ist der Autorin bekannt) läuft zur Stadtbahn und fährt nach Öhringen. Vom Bahnhof radelt sie nach Hause.

Auf der Küchenzeile wartet ein Brief. Kein geschäftlicher Umschlag. Ein Regenbogen leuchtet auf dem Papier neben dem Absender, eine Freundin hat ihr geschrieben. Sie umarmt mit pochendem Herzen ihre Mutter, steigt die Treppenstufen hinauf in ihr Zimmer und deponiert den Brief auf dem Bett. Erst am Abend will sie ihn öffnen.

Kein Chat, keine Fotos

Marcella geht in die zehnte Klasse eines Gymnasiums. Alle in ihrer Klasse besitzen ein eigenes Smartphone. Selbst Fünftklässler tragen fast alle ein Handy bei sich. Aber die 15-Jährige chattet nicht über Whatsapp und teilt keine Fotos bei Instagram. Nicht einmal eine eigene E-Mail-Adresse hat sie. Ihre Mutter hat sie mehrmals gefragt: „Du weißt schon, dass du jederzeit ein Smartphone haben kannst?“

„Du weißt schon, dass du jederzeit ein Smartphone haben kannst?“

Zu Weihnachten hat sie das alte ihres Vaters geschenkt bekommen. Sie hat es auf den Schrank verfrachtet.

Marcella schreibt lieber Briefe. Wann immer sie Zeit findet am Nachmittag, Abend oder Wochenende, setzt sie sich selbst an den Schreibtisch in ihrem Zimmer. Dann füllt sie Bögen von Briefpapier.

Das Tastenhandy, das ihr ihre Eltern für Notfälle geschenkt haben, schlummert im Tiefschlaf in ihrer Schultasche. Eine Freundin hat ihr eine Zeitlang SMS geschrieben. Du antwortest seit einer Woche nicht!, hat sie sich bei Marcella beschwert.

Die wirklich wichtigen Dinge bekommt sie mit

Jeden Morgen fährt sie mit einer Gruppe von Gleichaltrigen Bahn. Auf dem Schulhof trifft sie ihre Freunde. Sie geht zum Handballtraining und singt in drei Chören. Die wirklich wichtigen Dinge bekommt sie hier mit: in der Bahn oder in der Pause. Selbst mit einem Smartphone bekommt man nie alles mit, sagt Marcella.

Die wichtigsten Utensilien aus Marcellas analogem Leben: Skizzenbuch, Vokabelheft, Stifte und das ausgeschaltete Tastenhandy.

Die wichtigsten Utensilien aus Marcellas analogem Leben: Skizzenbuch, Vokabelheft, Stifte und das ausgeschaltete Klapphandy.

Für Freundinnen ist sie die ohne Internet. Dabei schreibt sie manchmal E-Mails von der Familienadresse mit ihrem Brieffreund Jan, bestellt am Tablet der Eltern das Mensaessen oder verlängert ihre Bücher.

Eine Sehnsucht nach dem analogen Leben wächst, je stärker wir uns davon entfernen

Eine Sehnsucht nach dem analogen Leben wächst, je stärker wir uns davon entfernen. Viele Menschen sind immer mehr frustriert darüber, wie viel Zeit das Smartphone frisst. Es lenkt sie vom „echten Leben“ ab. Und es raubt ihnen die Zeit zum Lesen, für physischen Kontakt, um handwerklich zu arbeiten oder in der Natur zu sein.

Bin ich überhaupt noch autonom oder schon abhängig? „Digital Detox“ – digitale Entgiftung – heißt es, etwa eine Woche oder ein paar Stunden täglich aufs Internet zu verzichten. Oder es wird mit digitalem Minimalismus versucht: Melde ich mich von den sozialen Diensten ab? Eine Entscheidung, die schwerfällt. Soll ich? Soll ich nicht?

Gründe dafür gibt es genug: Hate Speech, Mobbing, Privatsphäre und Datenschutz, Fake News, oberflächliche Kommunikation, Informationsüberflutung und der Druck, der entsteht, wenn man sich mit anderen vergleicht.

Ein Lehrer setzt auf analogen Unterricht

In einem hellgrün gestrichenen Klassenzimmer mit Holzboden und hölzernen Fensterrahmen erklärt Franko Beital seinen Schülern an der Heilbronner Waldorfschule, wie Ozeane entstehen. Weiße runde Lampen hängen bis tief über die Tische. Mit bunter Kreide malt der Lehrer eine detaillierte Skizze an die Tafel, den Ostafrikanischen Graben. Die Neuntklässler kopieren sie konzentriert in die Hefte. Vorne neben der Tafel wartet ein Overhead-Projektor auf den nächsten Einsatz.

Der digitale Eremit Franko Beital setzt auch im Unterricht darauf, dass analoge Methoden das Lernen fördern.

Franko Beital setzt im Unterricht darauf, dass analoge Methoden das Lernen fördern. Privat lebt er ohne Internet.

Gerade kommen die Schüler aus einem dreiwöchigen Landwirtschaftspraktikum, das sie auf Höfen in ganz Deutschland und im Ausland gemacht haben. Fächer wie Gartenbau und Schmieden werden an der Waldorfschule unterrichtet. Kreativität und Praxis gehören zum pädagogischen Konzept. Deshalb setzt Franko Beital auf analoge Unterrichtsmethoden. Nicht alles soll gleich verstanden werden. Wir hören an der Stelle auf, wo es in die Erklärung gehen könnte, sagt der Lehrer. In der Nacht sollen die Schüler den Stoff weiterverarbeiten.

Links Schülerin Sophie (14) und rechts Nele (14) im Erdkunde-Unterricht.

Links Schülerin Sophie (14) und rechts Nele (14) im Erdkunde-Unterricht. Fotos: Marie-Luise Schächtele

Am Nachmittag packen die Schüler ihre Smartphones aus

Das ist das Leben vor dem Internet. Und danach? Die Schüler verwenden ganz normal Messenger und Instagram, erzählen sie. Smartphones sind auch an vielen anderen Schulen verboten. Ob sie sich trotzdem digitalere Unterrichtsmethoden wünschen? Sie kennen es nicht anders, sagen sie. Eine Schülerin erzählt von einer Freundin, die an einer anderen Schule mit dem Tablet arbeitet. Die Lehrer könnten die Schüler kontrollieren, weil sie genau sehen können, was man gerade macht. Der analoge Unterricht mache Spaß, aber er würde gerne mehr über digitale Bildung erfahren, so wie an anderen Schulen, merkt ein anderer Schüler an. Erst in der Oberstufe wird an dieser Waldorfschule das Fach „Computertechnologie“ unterrichtet.

Als Franko Beital vor den Sommerferien mit einer achten Klasse auf dem Rückweg von einer Segel-Klassenfahrt an die Ostsee im Zug saß, kam er mit einem Banker ins Gespräch, erzählt er. Der Mann war verwundert, dass keiner der Schüler ein Smartphone nutzte. Doch per Elternbeschluss war verboten worden, dass die Schüler Handys mitnehmen. Aus Sicht des Bankers zu streng, doch die Schüler spielten, unterhielten sich, vermissten die Geräte gar nicht. Klar gibt es kurze Entzugserscheinungen, sagt Franko Beital.

Offline in einem Dorf im Nordschwarzwald

Der Lehrer ist 66 und lebt mit seiner Frau seit Sommer in einer Senioren-WG für sechs Parteien in einem Dorf in der Nähe von Bad Liebenzell im Nordschwarzwald. Nur unter der Woche wohnt er in Heilbronn. Das Haus haben sie renoviert. Die Wohngemeinschaft will gemeinsam einkaufen, kulturelle Veranstaltungen ausrichten, Feste feiern oder Brot backen. Wenn sie älter sind, wollen sie sich gegenseitig unterstützen.

Franko Beital und seine Frau haben zu Hause kein Internet. Drei oder vier Jahre hatten sie mal einen Fernseher. Aber online ist nur sie. Als Franko Beital vor ein paar Wochen einen Unfall hatte und von einer Minute auf die andere sein Auto kaputt war, musste er schnell an ein neues Auto kommen. Dafür ging er bei Freunden ins Internet. Er informierte sich auch über eine mögliche Rechtsform für ihr Wohnprojekt und geriet vom Hundertsten ins Tausendste.

Franko Beital will sich nicht verlieren. Er liest Zeitung, hört Radio. Die Spontaneität in der sozialen Begegnung gehe verloren, wenn alles durchorganisiert ist, sagt er. 16 Jahre lang hatten seine Frau und er kein Telefon, bis er Klassenlehrer wurde und es für organisatorische Aufgaben benötigte. Wenn sie Freunde besuchen wollten, versuchten sie es einfach. Und ihre Freunde taten das umgekehrt auch.

Sind Menschen, die aufs Internet verzichten, glücklicher?

Lebt es sich offline glücklicher? Medienpsychologin Johanna Schäwel von der Universität Hohenheim weist das zurück: Kein Internet zu nutzen, mache nicht grundsätzlich glücklicher, sagt sie. In einer Langzeitstudie haben Wissenschaftler aus Hohenheim und Oxford den Zusammenhang von Social-Media-Nutzung und Lebenszufriedenheit untersucht. Signifikante Einflüsse wurden nicht festgestellt, sagt Schäwel.

Eine Balance zu halten, sei aber wichtig, wie bei allen schönen und nützlichen Dingen. Sie empfiehlt, sich einem digitalen „Self-Monitoring“ zu unterziehen, sich also selbst zu reflektieren und zu fragen: Wie viele Minuten oder Stunden nutze ich täglich mein Smartphone? Ist das noch gesund oder bereits zwanghaft? Inwiefern brauche ich mein Handy wirklich, und was nützt es mir?

Sowohl die Schülerin Marcella als auch Franko Beital haben ein reges Sozialleben. Macht das Internet einsam? Nein, sagt Medienpsychologin Schäwel. Das Internet könne nicht als alleiniger Grund für Einsamkeit gesehen werden. Die Ursachen würden durch das Netz höchstens verstärkt. Die Persönlichkeit sieht sie als entscheidenden Faktor an. Online-Kommunikation finde sehr viel mit Kontakten statt, die man auch offline kenne.

Lieber eine Monatskarte für den Bus als online zu sein

Die Balance zu halten, sich selbst dabei zu beobachten, wie man das Internet nutzt: Das muss in den Ohren von Johanna Brand (Name von der Autorin geändert) wie Hohn klingen. Bei ihr reicht das Geld hinten und vorne nicht. Erst recht nicht mehr für einen Internetzugang. Sie steigt in den Bus ein. Aus ihrer Tasche holt sie ein Heft mit Kreuzworträtseln. Johanna Brand hat gerade bei der Heilbronner Tafel eingekauft: Obst, Gemüse, Pastete und Lebensmittel in Dosen. Suppengemüse kostet sonst 1,50 Euro. In der Tafel bekommt sie es für 19 Cent.

Zu Hause angekommen, betritt sie durch eine weiße Holztür das Treppenhaus. An der Wand neben dem Eingang bröckelt der Putz. Sie steigt die steilen mit helllila-gemusterten Linoleum verkleideten Stufen hinauf und öffnet die Wohnungstür. Sie läuft schlecht, zuerst hatte sie drei Knieoperationen, jetzt hat sie Arthrose.

Im Wohnzimmer eine Matratze, Schimmel, im Bad tropft Wasser von der Decke

Im Wohnzimmer steht ein Sofa, in der Mitte ein Tisch. Im Fernseher kann Johanna Brand die Nachrichten verfolgen. Drei Blumentöpfe stehen auf dem Fensterbrett. Auf der Matratze auf dem Boden direkt gegenüber der Tür schläft sie. Geht man nach rechts, kommt man in die Küche und dahinter ins Bad. Die Decke aus Holzlatten kommt fast herunter, Wasser tropft aus der oberen Wohnung nach unten.

Johanna Brand hat nicht nur ihren Job, sondern auch ihren Internetzugang verloren. Jetzt puzzelt sie, um die Zeit herumzukriegen. Mindestens 1000 Teile müssen die Spiele haben, damit sie nicht sofort damit fertig ist. Die schönsten Puzzle klebt sie auf eine feste Unterlage und hängt sie in der kleinen Wohnung auf.

Johanna Brand hat nicht nur ihren Job, sondern auch ihren Internetzugang verloren. Jetzt puzzelt sie, um die Zeit herumzukriegen. Mindestens 1000 Teile müssen die Spiele haben, damit sie nicht sofort damit fertig ist. Die schönsten Puzzle klebt sie auf eine feste Unterlage und hängt sie in der kleinen Wohnung auf. Foto: Ralf Seidel

Sie fühlt sich unwohl in ihren vier Wänden. Aber nach Wohnungen zu schauen, ist für sie nicht so einfach. Sie hat keine Arbeit und bezieht Hartz IV. Ins Internetcafé zu gehen, ist für sie teuer. Lieber wartet sie auf das Echo und schaut die Prospekte durch. Bei Penny ist Fisch für vier Euro im Angebot. Und sie bezahlt mit der Sozialhilfe die Monatskarte. Dann kann sie rauskommen, sich unter Leute mischen.

Ohne Smartphone in der Fremde: Bei Googlemaps hat sie früher nachgeguckt, wie es in ihrer polnischen Heimat aussieht

Früher hat sie E-Mails an eine Freundin geschrieben. Heute kann sie nicht: mit dem Jobcenter mailen, googeln, nach kostenlosen Möbeln oder einem neuen Kühlschrank schauen. Bei Googlemaps nachsehen, wie ihre polnische Heimat aussieht, die die frühere Buchhalterin mit ihrem Mann verlassen hat, von dem sie heute geschieden ist. Sie kann nicht mehr mit den alten Klassenkameraden Kontakt halten oder Rezepte für Pierogi, polnische Teigtaschen, suchen. Nach so vielen Jahren hat sie vergessen, wie viel Mehl man braucht.

„Wenn man kein Internet hat, klemmt es in einer digitalisierten Welt gewaltig.“

Was ist mit denen, die sich kein WLAN oder mobiles Internet leisten können? Für viele Verwaltungsakte, auch die Kita-Anmeldung oder die Essensanmeldung in der Schule, benötigt man Internet. Zwar geht es in Ausnahmefällen ohne, aber normalerweise soll man den Antrag online stellen. Auch die Weiterbewilligung beim Jobcenter kann man online beantragen.

„Wenn man kein Internet hat, klemmt es in einer digitalisierten Welt gewaltig“, sagt André Sommer von der Sozialberatung der Diakonie Neuenstadt. Laut Paritätischem Armutsbericht 2018 haben Arme zu Hause doppelt so häufig keinen Internetanschluss. Viele seiner Klienten haben zumindest mit dem Smartphone Online-Zugang. Aber ihnen fehle die digitale Kompetenz, stellt er fest. Sie wüssten nicht, wie Online-Banking funktioniert, müssten aber beim Jobcenter häufig Kontoauszüge einreichen. Einer seiner Klienten muss umziehen, doch wisse nicht, wie er per E-Mail Angebote von Umzugsunternehmen einholen kann. Gerade im Landkreis, wo Sommer tätig ist, im Jagsttal oder Kochertal, ist außerdem oft der Netzempfang schlecht.

Ohne Geld und ohne Netz kein sozialer Anschluss

Auch den sozialen Anschluss verlieren die Nicht-Internet-User. Sie sind ohnehin schon abgeschnitten. Doch ohne Internet sind sie es noch mehr. Johanna Brand kann nicht einmal auf Facebook Presseartikel kommentieren und sich auf die Weise als Teil der Gesellschaft fühlen. Es gibt deshalb die Menschen, die fürs Internet Geld ausgeben, obwohl sie es sich nicht leisten können, sich dann dadurch verschulden.

Das Internet gehört heute zum existenziellen Bedarf dazu. Ohne wird man diskriminiert. Müsste dann nicht auch der Staat dafür Geld in die Hand nehmen? Oder die Krankenkassen, wenn man argumentiere, dass es für eine Person ohne psychische Folgen habe oder sich psychische Probleme vermindern ließen?, fragt eine andere Sozialberaterin eines Wohlfahrtsverbands.

Mehr Achtsamkeit, mehr Langsamkeit

„Es braucht schon ein gewisses Selbstbewusstsein, um gegen den Mainstream zu sein“, sagt Marcella. Sie hat es und ist froh über ihren Verzicht.

Das Sinus-Institut, das soziale Milieus untersucht, hat auch herausgefunden, das in den eher konservativen Milieus, bei den Traditionellen, in der bürgerlichen Mitte, bei den Konservativen und im sozial-ökologischen Umfeld, Internet bewusst vorsichtig und selektiv genutzt wird. Die Internetkompetenz ist vorhanden, außer natürlich bei älteren Menschen, die sie sich nicht mehr aneignen wollen. Ist die Frage, ob man einfach offline gehen soll, ein Luxus, der Gesellschaftsgruppen umtreibt, die ihn sich auch leisten können?

Trotzdem: Franko Beital und die Schülerin Marcella scheinen ein wenig achtsamer zu leben, fokussierter. Sie tippen keine Nachrichten nebenher, wenn sie an der Supermarktkasse stehen. Sie lassen sich gerne überraschen, können warten.

Was sie mit Johanna Brand gemeinsam haben: die Geduld. Sie spielt jede Woche Lotto. „Irgendwann muss ich ja auch mal Glück haben“, sagt sie lächelnd. „Das Leben hat mich geduldig gemacht.“